Dunedin, September 1866
Lily fühlte sich inzwischen wie eine Tonne. Sie konnte sich kaum mehr normal bewegen und hoffte täglich, dass ihr Kind endlich kommen möge. Der Tod ihrer Kinderfrau hatte sie schwer getroffen, und ihre letzten Worte wollten und wollten ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen. Doch was sollte sie tun? Es gab keinen Menschen, den sie danach fragen konnte. Sie hatte keine Familie mehr außer der ihres Mannes.
Ihre Hochzeit im Mai war an ihr vorübergezogen wie ein Traum, aber nicht wie jener Wunschtraum ihrer Jugend, sondern wie eine unwirkliche Erscheinung, die nur eine verschwommene Erinnerung hinterlassen hatte. Sie musste sich jedes Mal sehr anstrengen, um die Bilder an jenen Tag in ihr Gedächtnis zu rufen. Das Wichtigste war für ihre Schwiegermutter gewesen, die Schwangerschaft der jungen Braut zu verbergen. Zu diesem Zweck hatte Mabel Newman keine Mühen gescheut. Sie selbst hatte das Kleid geschneidert, das die verräterische kleine Wölbung am Bauch ihrer Schwiegertochter geschickt hatte verbergen können. Das Einzige, woran sich Lily schmerzhaft entsann, war die Fremdheit, die sie Edward gegenüber empfunden hatte. Er sah immer noch gut aus, keine Frage, ja, er war sogar männlicher und attraktiver geworden, aber wo war die Freundschaft geblieben, die sie einst verbunden hatte? Warum hatte er nicht einmal mit ihr über seine Studien gesprochen? Kein einziges Buch hatte er ihr mitgebracht. Lily hatte ein paarmal vergeblich versucht, an das alte gemeinsame Interesse für die Medizin anzuknüpfen, aber er hatte das Gespräch jedes Mal abgewürgt. Einmal hatte er sie sogar gerügt mit Worten, die immer noch in ihren Ohren widerhallten. »Was geht dich die hohe Sterblichkeitsrate der Maori an? Verwende dein hübsches Köpfchen lieber dazu, mir ein gesundes Kind zu gebären.«
Immer wenn sie an diesen Satz dachte, schüttelte es sie. Genauso wie bei dem Gedanken, dass zur bevorstehenden Geburt der Arzt der Familie Newman geholt werden sollte. Lily konnte diesen grobschlächtigen Mann nicht ausstehen. Sonst hätte sie ihn längst aufgesucht, denn schon seit Tagen hegte sie die dunkle Ahnung, dass mit ihrem Kind etwas nicht stimmte. Es fühlte sich an, als würde ihr Leib platzen. Dennoch verspürte sie nicht mehr jene Bewegungen des Kindes, die sie vorher wochenlang nachts um den Schlaf gebracht hatten.
Schon seit Tagen kämpfte Lily mit sich. Sollte sie den Arzt aufsuchen oder ihrem Gefühl folgen und Doktor Ngata um Hilfe bitten?
Wie aus heiterem Himmel durchfuhr ein mörderischer Schmerz ihren Unterleib. Sie schrie so laut auf, dass das Dienstmädchen, eine junge Schottin, herbeieilte. »O Gott, ich hole den Doktor!«, schrie Una auf.
»Halt!«, rief Lily, während sie sich vor Schmerzen wand. »Bitte, hol Doktor Ngata! Er wohnt in der Princes Street an der Ecke Queens Street. Das rote Haus mit dem weißen Vorbau.«
Una blickte Lily scheu an. »Aber die Herrschaften haben doch gesagt, ich solle Doktor Claydon holen, wenn es so weit ist.«
»Ich sagte, Doktor Ngata und die Hebamme, wird’s bald!«, zischte Lily und ließ sich zu Boden sinken. Auf allen vieren kroch sie bis zu ihrem Bett und zog sich ächzend an den hölzernen Beinen empor. Sie atmete erleichtert auf, als sie in ihre weichen Kissen sinken konnte. Doch kaum dass sie lag, durchzuckte sie neuerlich ein stechender Schmerz, den sie nicht anders lindern konnte, als sich zusammenzukrümmen. Das wiederholte sich nun im Abstand von wenigen Minuten. Dazwischen betete sie, dass das Mädchen ihren Befehl ausgeführt hatte.
Ein kurzes Strahlen erhellte ihr Gesicht, als sie wie durch einen Nebel den dunklen Lockenkopf von Tamati Ngata erblickte.
»Es wird alles gut«, flüsterte er. Dann hielt er ihr ein Tuch mit übel riechender Flüssigkeit vor die Nase. Wider Willen atmete sie das scheußliche Zeug ein und wurde entsetzlich müde. Sie konnte nur noch einen flüchtigen Blick auf seine sorgenvolle Miene erhaschen, bis er ganz hinter einer Nebelwand verschwand. Ihr letzter Gedanke war: Mir kann nichts geschehen, wenn er bei mir ist. Er wird mir helfen.
Lily erwachte von lautem Gebrüll. Entsetzt riss sie die Augen auf. Wo war sie? Was war geschehen? Zuerst erblickte sie Doktor Claydon, der mit hochrotem Kopf Verfluchungen ausstieß. Dann hörte sie Babygeschrei und sah, wie Tamati Ngata auf seinen Armen ein winziges Wesen wiegte. Der Maori-Arzt sah glücklich aus.
»Wie kommen Sie Scharlatan dazu, das Kind von Misses Newman auf die Welt zu holen?«, geiferte ihn Doktor Claydon an.
»Werter Herr Kollege, ich bin von der Mutter gerufen worden, das Kind musste gedreht werden. Das haben wir getan.«
Er warf einer fremden Frau einen anerkennenden Blick zu. Lily mutmaßte, es sei die Hebamme, aber sie selbst brachte keinen Laut hervor. Ihr Mund war so trocken, dass sie das unangenehme Gefühl hatte, verdursten zu müssen.
»Ja, der Doktor hat es geschafft, er hat es gedreht. Es ist ein Wunder«, bekräftigte die Hebamme Tamati Ngatas Worte.
»Verdammt«, schnauzte Claydon. »Der Maori da hat ihr Chloroform gegeben. Unter dem Einfluss des Teufelszeugs kann keine normale Frau ein Kind gebären. Sie hätte sterben können.«
»Ich lebe aber«, bemühte sich Lily zu sagen, doch aus ihrem Mund drangen nur unartikulierte Worte. Da hörte sie ihren Schwiegervater drohen: »Sie verschwinden augenblicklich aus diesem Haus, Mister Ngata oder wie Sie sonst heißen. Sie haben hier nichts zu suchen.«
Lily schaffte es, sich bemerkbar zu machen. Sie warf einfach ein Glas um, das auf ihrem Nachtisch stand. Die Blicke aller waren nun auf sie gerichtet. »Alle raus hier!«, krächzte sie. »Bis auf Doktor Ngata und die Hebamme.« Es hörte sich zwar etwas verzerrt an, aber man konnte es verstehen. Jedenfalls hatte sich Mister Newman bereits aufgeplustert, um ihr etwas Passendes zu erwidern, da zischte seine Frau: »Lasst uns gehen. Immerhin hat der Maori das Kind gerettet.«
Doktor Claydon lachte laut auf. »Er hat mit ihrem Leben gespielt und Glück gehabt«, schnaufte der behäbige Mann, während er sich mit einem Tuch ständig den Schweiß von der Stirn wischte.
Lily aber kümmerte sich nicht mehr um den Pakeha-Doktor, sondern hatte nur noch Augen für den Maori-Arzt, der ihr nun das Neugeborene in den Arm legte.
Voller Stolz blickte sie den kleinen Jungen an. Er sah aus wie ein richtiger Pakeha - bis auf die tiefbraunen Augen.
»Ich danke Ihnen, Doktor Ngata«, seufzte sie gerührt. »Und auch Ihnen.« Sie wandte sich der Hebamme zu, die allein mit dem Maori-Arzt im Zimmer geblieben war.
»Ich glaube, Herr Doktor, wenn sich das unter den werdenden Müttern herumspricht, dann werden Sie sich nicht mehr retten können vor Patientinnen«, bemerkte die rundliche Frau mit dem gutmütigen herzförmigen Gesicht. »Aber sehen Sie sich vor. Doktor Claydon ist ein eitler Mann, der sicherlich nichts unversucht lassen wird, Sie in Misskredit zu bringen. Und er ist in seiner Ehre getroffen, allein weil das Kind überlebt hat. Er ist dafür bekannt, dass er die werdenden Mütter für den Fall, dass ihre Kinder nicht mit dem Kopf nach unten liegen, betäubt und die Ungeborenen in ihren Bäuchen so lange mit der Zange bearbeitet, bis sie tot und völlig durchlöchert abgestoßen werden.«
Tamati schüttelte sich. »Davon hörte ich. Das sind ja Methoden wie vor hundert Jahren.«
»Eben, deshalb wird er Sie ja hassen, weil Sie ihm vorgeführt haben, wie man es besser machen kann.« Die Hebamme schien wirklich besorgt um den Maori-Doktor zu sein.
Der aber winkte lächelnd ab. »Das kenne ich schon, dass ich den hiesigen Kollegen durch meine moderne Ausbildung in London suspekt bin und sie mir unterstellen, ich würde mich heidnischer Maori-Rituale bedienen. Dabei kenne ich leider gar keine, aber die Kräuter meines Volkes, die wirken wahre Wunder. Bislang hat mir allerdings keiner der Neider einen Schaden zufügen können, und wenn ...«
Er wurde durch ohrenbetäubendes Geschrei unterbrochen, doch nachdem Lily dem Säugling geistesgegenwärtig die entblößte Brust angeboten hatte, schmatzte der kleine Kerl friedlich vor sich hin.
»Wenn Sie Ärger bekommen sollten, dann sagen Sie mir bitte Bescheid. Ich würde alles tun, um Sie gegen üble Nachrede zu verteidigen«, erklärte Lily entschlossen.
»Meine Unterstützung haben Sie auch«, ergänzte die Hebamme. »Ich werde Sie in Zukunft zu jeder schwierigen Geburt holen lassen.«
»Aber nicht jede Pakeha lässt sich von mir bei einer Entbindung helfen«, erwiderte er ernst.
»Das ist leider wahr. Einige sind wirklich verbohrt«, seufzte die Hebamme, während sie ihre Tasche packte. »Ich werde die nächsten Tage noch einmal nach Ihnen sehen, Misses Newman, und genießen Sie Ihr Glück. Bei der kräftigen Stimme bringt er es bestimmt einmal zu etwas Besonderem.«
Lily lächelte zum Abschied. Sie mochte die Hebamme, doch nun war sie mit Tamati Ngata allein.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, flüsterte Lily mit Tränen in den Augen. »Wenn Sie nicht gewesen wären, dann hätte ich meinen kleinen Sohn stückchenweise geboren.«
»Wie Sie das so sagen. Ich müsste lachen, wenn es nicht so traurig und wahr wäre. Lily, ich mag Ihre offene Art. Und Sie haben mitgeholfen, weil Sie mir Ihr Vertrauen geschenkt haben. Sie haben daran geglaubt, dass ich Ihr Kind hole. Ich habe es in Ihrem Blick gelesen, bevor Sie davongedämmert sind.«
Lily senkte den Kopf und wurde rot. Hoffentlich hat er nicht noch mehr in meinen Augen gesehen, dachte sie bang. Und ehe sie sich's versah, hatte sie seine Hand genommen. Er ließ es geschehen. Keiner von ihnen sprach ein Wort, und doch sagte diese stumme Berührung mehr als tausend Worte.
Nach einer halben Ewigkeit - das Neugeborene war inzwischen eingeschlafen - zog Tamati sanft seine Hand zurück.
»Ich muss gehen, Misses Newman, ich glaube, Sie werden ohnehin genügend Ärger bekommen, weil Sie sich mir anvertraut haben. Und je länger ich in Ihrem Schlafzimmer bleibe, desto mehr werden sie sich aufregen.«
Mit diesen Worten erhob er sich, packte stumm seine Tasche und reichte ihr zum Abschied noch einmal die Hand. Sie hielt sie länger fest, als erforderlich gewesen wäre, aber sie mochte ihn kaum loslassen. Seine Anwesenheit gab ihr unendlich viel Sicherheit. Doch einmal musste sie sich ja von ihm verabschieden. Widerwillig zog sie ihre Hand zurück.
»Wissen Sie schon, wie er heißen soll?«, fragte der Arzt mit einem wohlwollenden Blick auf das schlafende Kind in ihrem Arm.
»Ich hätte ihn gern Walter genannt nach meinem Großvater, aber mein Mann möchte ihn gern nach einem Onkel von ihm nennen. Peter.«
»Ja, dann wünsche ich Ihnen viel Freude. Und wo ist Ihr Mann jetzt, wenn ich fragen darf?«
»Sie dürfen. Er studiert immer noch Medizin und kommt an Weihnachten endgültig zurück, um hier in Dunedin später eine Praxis - ausgerechnet die von Doktor Claydon - zu übernehmen. Aber ich verspreche Ihnen, dann lade ich Sie einmal zu uns ein, denn mit meinem Mann werden Sie sich sicher gut verstehen. Er ist nicht so verknöchert wie der alte Doc. Außerdem kann er eine Menge von Ihnen lernen.«
»Wir werden sehen«, erwiderte Doktor Ngata ausweichend und eilte aus dem Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Mit einem prüfenden Blick auf ihren Sohn stellte sich Lily erneut der Frage, ob sie Ripekas abenteuerlicher Geschichte wirklich Glauben schenken durfte. Peter war ein Weißer wie Edward und sie. Und braune Augen gab es auch bei Engländern zur Genüge. Nein, die magische Anziehung, die der Maori-Doktor auf sie ausübte, musste andere Ursachen haben. Sie glaubte nicht an die dubiose Geschichte, die ihr Ripeka in den letzten Minuten auf dem Sterbebett offenbart hatte.
Eine bleierne Müdigkeit überfiel sie, aber bevor sie einschlafen konnte, polterten ihre Schwiegereltern herein.
»Tomas, bitte, sie braucht ihre Ruhe!«, flehte Mabel, während ihr Mann sich an ihr vorbei bis zu Lilys Bett drängte.
»Bitte, mein Kind, erklär mir, warum du diesen Menschen hast holen lassen. Jim war außer sich, als er den Maori mit deinem Kind auf dem Arm vorgefunden hat.«
»Wenn der Maori-Doktor nicht gekommen wäre, dann hätte mich Doktor Claydon wahrscheinlich gar nicht mehr lebend vorgefunden und mit Sicherheit nicht mit diesem prachtvollen Jungen.«
»Habe ich dir doch gesagt. Da kann man von dem Kerl halten, was man will, aber wir verdanken ihm Peters Leben. Mir ist er ja unheimlich, aber wir müssen ihn schließlich auch nie wieder sehen.«
»Ist das der Dank?«, fragte Lily spitz. »Ich werde ihn, sobald Edward aus Sydney zurück ist, zu einem Essen einladen, denn ich glaube, mein Mann kann eine Menge von dem äußerst gebildeten und erfahrenen Arzt lernen. Er hatte in London die besten Professoren.«
»Ich bezweifle, dass Edward von diesem Plan besonders begeistert sein wird. Er kennt seine Stellung in der Gesellschaft«, stichelte Tomas.
»Wir werden sehen, aber nun lasst uns doch nicht wegen dieses Mannes streiten. Ist der Kleine nicht bezaubernd? Ganz unser Edward«, bemerkte Mabel mit einem verzückten Blick und nahm Lily das Baby ohne Vorwarnung aus dem Arm. »Du musst dich jetzt ausruhen nach diesen Strapazen«, flötete sie, und schon war sie mitsamt dem Kind aus dem Zimmer getänzelt.
»Du weißt, dass du Doktor Claydon sehr verärgert hast, nicht wahr?«, insistierte ihr Schwiegervater.
Lily ballte unter der Bettdecke die Hände zu Fäusten. »Hättest du es lieber gehabt, er wäre jetzt nicht beleidigt, aber dein Enkelsohn dafür tot?«
»Aber das ist doch gar nicht gesagt. Das ist eine böse Unterstellung!«
»Die Hebamme hat es bestätigt. Doktor Claydon greift gern und schnell zur Zange und ist schnell dabei, einem Kind im Mutterleib den Schädel zu perforieren.«
»Und wenn er die Praxis nun deshalb nicht an Edward übergibt?«
»Na und? Dann kann Edward vielleicht bei Doktor Ngata ein-steigen«, erwiderte Lily voller Überzeugung.
»Du glaubst doch nicht, dass sich mein Sohn mit diesem Maori-Arzt zusammentun würde. Ich kann dir nur raten: Behellige Edward erst gar nicht mit diesem Vorfall. Ich werde meinerseits Doktor Claydon bitten, Stillschweigen zu bewahren. Damit schaffen wir diese unangenehme Angelegenheit aus der Welt.«
»Heißt das, ich darf Edward nicht sagen, wer das Leben seines Sohnes und auch meines gerettet hat, damit der Pfuscher nicht böse wird? Vater, das kannst du nicht von mir verlangen«, entgegnete Lily trotzig.
»Ich denke schon, denn sonst müsste man ihm auch verraten, dass du, nachdem die Hebamme bereits gegangen war, über eine Viertelstunde allein mit dem dunkelhäutigen Arzt in deinem Schlafzimmer gewesen bist. Das schickt sich nicht. Kein weißer Arzt würde nach der Geburt so lange bei der frischgebackenen Mutter verweilen. Und du weißt doch, dass mein Sohn zur Eifersucht neigt. Ich erinnere dich nur an Weihnachten. Da hat Mister Gerald dir ein Kompliment gemacht, und der Mann ist neunzig. Mir ist Edwards Blick jedenfalls nicht entgangen. Dir vielleicht?«
Lily blickte ihren Schwiegervater fassungslos an. »Aber... aber das ist Erpressung«, schnaubte sie schließlich voller Empörung.
»Du hast die Wahl«, entgegnete Tomas Newman ungerührt. »Und außerdem würde ich ohnehin nicht erlauben, dass dieser Mann noch einmal unser Haus betritt. Überleg dir also gut, was du tust.«
Lily sah ihrem Schwiegervater aus schreckensweiten Augen hinterher. Eine schmerzhafte Sehnsucht nach der Geborgenheit, die sie in der Gegenwart des Arztes empfunden hatte, überkam sie mit aller Macht. Ihr Herz schrie verzweifelt seinen Namen: Tamati.